18.01.2011 | 1. Mannschaft

Der Besuch bei der "Alten Dame"

Hertha BSC und die Reparaturarbeiten nach dem Betriebsunfall

Eine Milliarde stiftet Claire Zachanassian den Bewohnern ihrer Heimatstadt am Ende von Friedrich Dürrenmatts weltbekannter Komödie "Der Besuch der alten Dame". Geld, das eine andere "Alte Dame" derzeit mit Handkuss nehmen würde: Die Berliner Hertha ist nach dem Abstiegs-Super-GAU der Vorsaison zwar sportlich wieder auf Aufstiegskurs, kämpft aber in gewissem Maße weiterhin um ihre finanzielle Konkurrenzfähigkeit.

Wenn am kommenden Sonntag ab 13.30 Uhr im monumentalen Berliner Olympiastadion der Ball rollt, geht es für Gastgeber Hertha BSC wie immer um noch ein klein wenig mehr als um drei Punkte. Zwar können die Bundeshauptstädter im Match gegen die seit fünf Spielen unbesiegte Fortuna ihren berechtigten Aufstiegshoffnungen weiter Nahrung geben. Doch spielen sie in jeder einzelnen Partie auch stets darum, die Spukbilder eines beispiellosen Absturzes zu verscheuchen, dessen Nachwehen den Traditionsverein wohl noch eine Weile plagen werden.

Als Josip Simunic nach dem 1:0-Sieg über Bayer Leverkusen dem vor Glückseligkeit tosenden Rund schon einmal probeweise eine Meisterschale aus Pappe entgegenhielt, wünschte sich eine ganze Stadt noch sehnlicher als sonst den Mai herbei. Mitte März 2009 winkte Hertha BSC nach dem zehnten Heimsieg in Folge mit vier Punkten Vorsprung von der Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga ihren Verfolgern zu. Aus den Lautsprechern des Olympiastadions wummerten die Atzen "Wir holen die Meisterschaft", auf den Rängen hielten die Fans "Yes, we can!"-Banner in die Luft, und Klaus Wowereit ließ vorsichtshalber den Balkon des Roten Rathauses reservieren.

Was folgte, war ein Einbruch mit drei Niederlagen in Folge - den Auftakt machte Borussia Dortmund, das die Berliner wieder zurück in den Ohrensessel schickte, ausgerechnet, als das Olympiastadion zum ersten Mal seit ewigen Zeiten - ohne Zutun eines DFB-Pokal-Finals oder einer Weltmeisterschaft - komplett ausverkauft war. Am Ende stand ein vierter Platz zu Buche, der immer noch weit mehr war, als das, womit man an der Spree kalkuliert hatte. Doch die "Alte Dame" sollte vorerst nur einen Frühling lang tanzen.

Es reiften zwar die Blütenträume für die Folgesaison, aber Hertha - geschwächt von den Abgängen wichtiger Stützen - welkte dahin: Nach einer fürchterlichen Hinrunde, die man mit sechs (!) Punkten beschloss, konnte auch Berufsretter Friedhelm Funkel das Ruder nicht mehr herumreißen. Obwohl die Atzen die Band auf der sinkenden Titanic gaben und auch dann noch tapfer "Die Hertha steigt niemals ab" intonierten, als es schon längst zu spät war, schlugen die Blau-Weißen bretthart in der Zweiten Liga auf. Statt gemütlich vor dem Fernseher dem jeweiligen Gegner vom Stadtrivalen Union die Daumen zu drücken, mussten sich die Hertha-Fans plötzlich selber Montagsabends auf den Weg ins Stadion machen.

Mit Michael Preetz kehrt nun ein Mann die Scherben auf, der am Flinger Broich kein Unbekannter ist. Der gebürtige Düsseldorfer schoss in 88 Partien für Fortuna 20 Tore und zählte in den Neunzigern zu den am meisten gefürchteten Vollstreckern der Eliteklasse. Als Neueinsteiger im Managergeschäft - erst 2009 trat er aus dem langen Schatten vom langjährigen Patron Dieter Hoeneß - stellte Preetz eine Aufräumkolonne zusammen, die vorsorglich schon einmal mit reichlich Erstligaerfahrung daherkommt. Auf der Kommandobrücke steht mit Ex-Nationalspieler Markus Babbel ein Mann, der als Spieler lediglich einmal dem Gast aus Flingern unterlag, und zwar in Diensten des FC Bayern München beim denkwürdigen DFB-Pokal-Zweitrundenmatch am 18. September 1995, das die Rheinländer seinerzeit mit 3:1 für sich entscheiden konnten. Jeder Fortune kann sich erinnern: Es war das Spiel des Ben Manga. Babbel weiß also mit Fortuna Düsseldorf umzugehen - kostbares Know-How angesichts der Tatsache, dass die Flingeraner zuletzt 1981 verloren, wenn sie bei der Hertha gastierten. Die Ewige Statistik der Kontrahenten liest sich derweil ausgeglichen: Bei 16 Remis stehen zehn Erfolgen von Fortuna deren neun der Berliner gegenüber.

Der Chefcoach der Hauptstädter erfüllt derzeit die Erwartungen und hält mit seiner Mannschaft den Kurs auf den sicheren Hafen der Aufstiegsplätze. 36 Punkte stehen zu Buche, 22 davon wurden im Olympiastadion erwirtschaftet: Balsam für ein Publikum, das in der Abstiegssaison 16 sieglose Heimspiele in Folge ertrug und verkraften musste, wie Hertha BSC dem stets verlachten ewigen Synonym des Versagens, nämlich der Saure-Gurken-Truppe vom Nachbarn Tasmania 1900, einen traurigen Negativrekord abnahm. Vorbei und vergessen! Eine Etage tiefer begeistert die "Alte Dame" nicht nur zu Hause wieder.

Die ersten zehn Spieltage der Zweitligasaison - darunter die Partie des zweiten Spieltages, ein 2:1-Erfolg (Tore: Friend, Domovchiyski - Wellington) in der ESPRIT arena - überstand das Team ohne Niederlage. Mit drei Pleiten vom 13. bis zum 15. Spieltag durchlebte man zwar eine kleine Krise, die die Babbel-Elf jedoch überwunden zu haben scheint: Dank des 3:1-Erfolgs bei Rot-Weiß Oberhausen ist man, nunmehr punktgleich mit Tabellenführer Augsburg, auf Platz 2 zurückgekehrt. Gegen die Flingeraner, die aller Voraussicht nach in Bestbesetzung nach Berlin reisen, kann Babbel wieder auch auf den zuletzt gelb-rot-gesperrten Roman Hubnik zurückgreifen, während mit Andre Mijatovic (Rotsperre) der zweite Stamm-Innenverteidiger noch nicht wieder spielberechtigt ist. Auch Peter Niemeyer wird keine Berücksichtigung finden können, da dieser sich gegen RWO einen Muskelfaserriss zugezogen hat.

Taktisch hat der ehemalige Coach des VfB Stuttgart seinen Berlinern offenbar strikte Arbeitsteilung verordnet. Die beste Abwehrreihe der Liga (erst 14 Gegentore) hält sich genau wie das Mittelfeld in punkto Torbeteiligung zurück, den Löwenanteil der Scorerpunkte teilt die individuell überragend besetzte Sturmreihe gleichmäßig unter sich auf. 23 von 28 Toren und 19 von 25 Vorlagen entfallen auf die Abteilung Attacke, in der mit Adrian Ramos und Raffael zwei Leistungsträger gehalten werden konnten, die nach dem Abstieg bei mehreren Erstligisten auf dem Zettel standen - wieder einmal eine willkommene Prüfung für das Fortuna-Abwehrbollwerk. Mit Rob Friend und Levan Kobiashvili, Christian Lell und Pal Dardai sowie Fabian Lustenberger stehen weitere gestandene Bundesligaprofis unter Vertrag; gemeinsam können die aktuellen Hertha-Spieler auf 1.370 Einsätze in der Beletage verweisen (zum Vergleich: Fortuna bringt es in dieser Statistik auf gerade 240 Partien).

So viel Qualität hat natürlich ihren Preis. Der Abstieg traf die finanziell ohnehin seit langem nicht auf Rosen gebettete Hertha mit der Wucht einer Abrissbirne. Riesige Verbindlichkeiten drücken den Verein, von knapp 40 Millionen Euro ist die Rede. Die Lizenz für die kommende Saison sei nicht in Gefahr, hört man, im Falle einer zweiten Saison im Unterhaus ist der derzeitige Etat jedoch wohl nicht zu stemmen. Wird der Aufstieg am Ende der Saison verpasst, drohen radikale Sparkurse, die auf Jahre hinaus tiefe Furchen in das Gesicht der Mannschaft reißen würden. Zuletzt konnte Präsident Werner Gegenbauer - ein enger Freund von Uli Hoeneß - immerhin die unverhoffte 8-Millionen-Infusion einer bis dato anonymen Gönnerschaft kundtun. Auf einen Besuch einer anderen alten Dame von Dürrenmatt wird die "Alte Dame" von der Spree allerdings vermutlich vergeblich warten müssen.

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