Heißbegehrter Löwennachwuchs
Wie sich die Sechziger dank furioser Jugendarbeit sportlich und finanziell behaupten
Was hat dieser Verein dem deutschen Fußball nicht für herrliche Anekdoten geschenkt! Der hitparadenstürmende und zu waghalsigen Ausflügen neigende Torwart Petar Radenkovic, die menschgewordene Detonation Werner Lorant, durch dessen Adern Nitroglyzerin zu fließen schien, nicht zuletzt der früh verstorbene Präsident Karl-Heinz Wildmoser, der zu München gehörte wie die Brez'n zur Weißwurst - der TSV München von 1860 ist eine reich gefüllte Kornkammer an kleinen und großen Legenden. Die Chronik des nächsten Gegners der Fortuna weiß aber auch eine Geschichte von Großmannssucht, Korruption, dem Kampf ums Überleben und einer berühmten Ohrfeige auszuweisen.
Es ist eine der großen hypothetischen "Was-wäre-gewesen-wenn"-Geschichten, an denen der Fußball so reich ist. In diesem Falle spinnt sich die Legende um eine harmlose Ohrfeige, die als "Watsch‚n von Giesing" den Lauf der deutschen Fußballhistorie womöglich mit beeinflusst hat. In unfreiwilligen Empfang nahm sie im Jahre 1958 ein vom Fußballgott mit reichlich Talent beschenkter 13-Jähriger namens Franz Beckenbauer. Der noch ungekrönte Kaiser, zu jener Zeit in die Farben des SC 1906 München gehüllt, schwebte schon zu Jugendzeiten derart anmutig über die Fußballplätze zwischen Giesing und Schwabing, dass sich der TSV 1860 - Ende der Fünfziger die Nr. 1 in der Metropole - für die kommende Saison seine Dienste gesichert hatte. Da sich an jenem schicksalhaften Tag allerdings ausgerechnet die Hand eines Löwen-Jugendspielers ins Gesicht der zukünftigen Lichtgestalt verirrte, zog Beckenbauer, tödlich gekränkt, seine Zusage zurück und stieg stattdessen beim FC Bayern ins Boot - wo er, das dürfte allgemein bekannt sein, Jahre später eine Ära begründete und prägte.
Es ist, wie immer, müßig und bleiern theoretisch, darüber zu sinnieren, ob Beckenbauer den TSV 1860 in einem Paralleluniversum zu "Großkopferten" gemacht hat; ob in diesem alternativen Szenario statt "FC Bayern München" der Schriftzug "TSV 1860" in 21-facher Ausführung auf der Meisterschale graviert ist. Unstrittig ist im Jahr 2011 allerdings, dass die "Roten" den "Blauen" vor gar nicht so langer Zeit sehr hilfreich zur Seite standen. Denn ein Krater von 5,3 Millionen Euro Schulden klaffte im Haushalt der Sechziger - erst als die Bayern zusagten, die fällige Stadionmiete vorerst zu stunden, erteilte die DFL die Lizenz für die Rückrunde. Die seit Jahren präsente Finanzmisere verdankt der TSV 1860 nicht zuletzt der Beteiligung am Neubau der Allianz Arena. An den immensen Kosten verhob man sich spätestens nach dem Bundesligaabstieg 2003 kräftig und zog sich einen anhaltenden Hexenschuss zu, der das Rückgrat des Vereins auf Jahre hinaus schädigen sollte. Die Lichter im Löwen-Vereinsheim wären vermutlich schon lange erloschen, könnte man nicht in der eigenen Nachwuchsabteilung immer wieder aufs Neue edles Tafelsilber schmieden. An der Grünwalder Straße verstehen sie sich nämlich auf die Aufzucht gesunder Junglöwen. Angefangen bei Nationalspieler Marcel Schäfer über die Bender-Zwillinge Lars und Sven, Peniel Mlapa, Moritz Leitner, jüngst Kevin Volland - die Liste talentierter Sechziger, die für wertvolle Transferentschädigungen bei ambitionierten Vereinen unterzeichneten, ließe sich noch einige Zeilen fortführen.
Ihr ehemaliger Präsident, der inzwischen verstorbene Gastronomiebaron Karl-Heinz Wildmoser, hatte (auch infolge des Engagements beim Stadionneubau) seinen Teil zu einem erklecklichen Schuldenberg beigetragen - bei dem ehrgeizigen Versuch, seine geliebten Sechz’ger auf Augenhöhe mit dem Stadtrivalen von der Säbener Straße zu bringen. Dies wiederum mit der glanzvollen Bilanz, dass der Verein binnen zehn Jahren von der Bayernliga bis in die Champions League aufstieg. Entsprechend tragisch musste auf Außenstehende Wildmosers plötzlicher Rücktritt im Jahr 2004 wirken - ähnlich vergleichbar wie der Abgang eines Jean Löring beim SC Fortuna Köln.
Nicht wenige, die sagen, dass die Wunden der Wildmoser-Ära bis heute bestenfalls notdürftig verheilt sind. Angesichts der finanziellen Zwangsjacke leisten Coach Reiner Maurer und Manager Miroslav Stevic beachtliche Arbeit. Beide sind eng mit dem Verein verbunden. Während Maurer von 2001 bis 2006 zunächst als Co-, dann als verantwortlicher Trainer auf der Löwen-Bank Platz nahm, trug der furchtlose Zweikämpfer Stevic zwischen 1994 und 1998 in 104 Spielen das Trikot mit den bayrischen Landesfarben. Gemeinsam haben sie eine Mannschaft zusammengestellt, die mit derzeit 29 Punkten von Rang 9 aus verstohlen nach oben schielt. Im hartumkämpften Rennen um den Relegationsplatz befinden sie bei sechs Punkten Rückstand in mittelfristiger Schlagdistanz. Der Kader profitiert dabei trotz allem jugendlichen Überschwang besonders von einigen bundesligaerprobten Veteranen.
So ist der mittlerweile 34-jährige Gabor Király - immer noch mit der grauen Pluderhose ausgestattet - ein Ruhepol im Tor. Der serbische Nationalspieler Antonio Rukavina und Routinier Stefan Buck nehmen U 19-Nationalspieler Stefan Bell in der Viererkette unter ihre Fittiche, während sich das Mittelfeld am 60er-Urgestein und Kapitän Daniel Bierofka orientiert. Der Ex-Nationalspieler schart mit Florin Lovin und Alex Ludwig zwei spielstarke und torgefährliche Akteure um sich. Junge Wilde wie Alexander Ignjovski, Dominik Stahl und die neueste Entdeckung Tarik Camdal lindern derweil die Enttäuschung, die nach dem wenig erfreulichen Szenario um Hoffnungsträger Savio Nsereko um sich griff: Der Ex-U21-Nationalspieler tauchte nach einigen Eskapaden ohne Absprache tagelang unter und wurde schließlich fristlos entlassen. Im Angriff ruht die Verantwortung derweil überwiegend auf Altmeister Benny Lauth (zehn von 25 Löwen-Saisontoren), der sich allerdings jüngst kritisch zu einem eventuellen Verbleib bei den Sechzigern äußerte.
Das große Problem der Löwen ist in dieser Saison die mangelnde Beständigkeit. Einerseits wiesen sie zwar ihre große Qualität nach - zwischen dem vierten und vierzehnten Spieltag blieben sie ohne Niederlage und räumten auch die Platzhirsche von Hertha und Augsburg aus dem Weg -, leisteten sich jedoch auch Patzer wie das torlose Unentschieden gegen Bielefeld oder das Remis in Ingolstadt. Die Allianz Arena wirkt bei Löwenspielen natürlich nicht so stimmungsvoll wie beim FCB, wo es an gleicher Stelle wie in einem Hexenkessel zugeht: So steht der TSV auf Platz 14 in der Heimtabelle.
Gegen die Rot-Weißen aus Düsseldorf dürfen die Löwen allerdings auf eine imposante Heimstatistik verweisen. Achtmal genoss der TSV 1860 Heimrecht gegen die Flingeraner und ging dabei sechsmal als Sieger vom Feld - einen Sieg gab es lediglich für F95 zu holen. Das einzige Remis datiert vom 14. Spieltag der vergangenen Saison. Beim letzten Gastspiel in der Allianz Arena egalisierten Ranisav Jovanovic und Patrick Zoundi noch eine 2:0-Führung der Löwen (Tore: Hoffmann, Ludwig), bei denen mit Sascha Rösler ein Akteur auflief, der mittlerweile beim Gegner für äußerst positive Akzente sorgt. Reiner Maurer und sein Team könnten in der diesjährigen Auflage der Partie mit einem Dreier ebenso in Sichtweite der Aufstiegskandidaten bleiben wie die Fortunen - Motivation genug für beide Teams am Montagabend die Partie für sich zu entscheiden.