11.03.2004 | Verein

600 Spiele am Mikrofon

Sonntagnachmittag, 14.30 h, Zoostadion in Wuppertal. Die Reste weißer Pracht auf der Laufbahn lassen auf die Wetterverhältnisse der vergangenen Tage schließen, doch strahlender Sonnenschein hat den letzten Schnee auf dem Spielfeld schmelzen lassen und die Platzverhältnisse scheinen optimal, jetzt, da es noch dreißig Minuten bis zum Anpfiff sind. Im Stadioninnenraum steht ein Mann, dessen Gesicht zu Fortuna gehört, wie das Logo, das die Spieler auf der Brust tragen. Und wie so oft skandieren etliche Fans von den Rängen seinen Namen. Eine schöne Sympathiekundgebung, für die er sich mit eindeutiger Geste bedankt: Dieter Bierbaum, Stadionsprecher der Fortuna, hat zwar dienstfrei bei diesem Auswärtskick, aber natürlich ist er, "wie seit 1956 immer", auch an diesem Tag dabei, wenn "seine" Fortuna kämpft und endlich anknüpfen will an bessere Zeiten in höheren Ligen. Denn von diesen "besseren Tagen" hat er schließlich eine ganze Menge gesehen.

Eine markante Stimme - "The voice"


Da steht Bierbaum nun, mit Sitzkissen, Mannschaftsaufstellung und Lesebrille. Akkurat und konzentriert - so, wie bei jedem Spiel. So kennt man ihn, den Mann mit den vielen Facetten. Nur scheinbar überrascht wirkt er auf den Hinweis, gegen ETB SW Essen erwarte ihn sein 600. Pflichtspiel-Einsatz. "Ich habe irgendwann einmal aufgehört mitzuzählen," sagt er, dem man, ebenso irgendwann einmal, in Anspielung auf seine markante Stimme den fast ehrfurchtsvollen Beinamen "The Voice" gegeben hat, "aber es waren ohnehin weitaus mehr Partien, wenn man noch die Pokal-, Freundschafts- und Auswärtsspiele mit in die Bilanz einfließen lassen würde." Er sagt dies zwar mit Stolz, jedoch sachlich, ohne jegliche Überheblichkeit und eben ob dieses Charakterzugs weiß man ihm angemessen respektvoll zu begegnen: Andere Stadionsprecher machen Durchsagen - Dieter Bierbaum macht Ansagen!


Und was die Facetten angeht: Er hat tatsächlich schon viel gesehen und die Bandbreite, mit der dieser Mann aus seinem Leben erzählen kann, ist so spannend, so schillernd, dass man eine ganze Serie an Interviews mit ihm führen könnte. Viele warten schon auf seine Memoiren, in denen er seine Erlebnisse niederschreibt.


Dieter Bierbaum wurde in Osterode am Harz geboren. Durch die damaligen wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt, siedelte seine Familie über an den Rhein nach Düsseldorf. Schon früh, mit dreizehn Jahren, entdeckte Bierbaum seine Liebe zum Fußball und in seiner neuen Wahlheimat natürlich zur Fortuna, wo er ab 1956 Mitglied war, in der Jugend und später auch bei den Amateuren spielte. Jung-Dieter ist damals noch nicht volljährig, das Regiment der Erziehungsberechtigten hingegen zeitgemäß streng. Ungeachtet dessen zieht es ihn immer wieder zur Platzanlage nach Flingern, wo er den Spielern in Rot-Weiß zujubelt. Für Bierbaum ist klar: Dies ist "sein" Verein, komme, was wolle.


Im hier und jetzt ist jedoch Wuppertal angesagt, diesmal der VIP-Bereich des besagten Zoostadions. Hier ein "Hallo, Dieter, schön Dich zu sehen!", dort ein "Na, wie geht es Dir denn, mein Lieber?!"- Bierbaum ist nicht nur im Stadion bekannt, sondern kann sich auch im Umfeld herzlicher Begrüßungen sicher sein. Man weiß halt um ihn und dies kommt nicht von ungefähr. Schließlich ist er der "dienstälteste Stadionsprecher der Republik", wofür ihn der Fußballverband Niederrhein zum Spiel gegen SW Essen, besagtem 600., mit der Ehrennadel für besondere Verdienste auszeichnet. Was sich nüchtern anhören mag, bekommt lebhaftere Ausstrahlung, wenn man mit ein paar Zahlen aufwartet.


Wahrscheinlich 54.000 Spielminuten am Mikrofon - ohne Gewähr


Denn die Bierbaum’sche Statistik ist mehr als beeindruckend und verleitet zu kleinen Rechenspielereien: 600 Pflichtspiele entsprächen einer aktiven Karriere über 17 Jahren bei ein und demselben Verein - ein heutzutage undenkbares Phänomen, das mathematisch nur zuträfe, wenn man pro Saison 34 Spiele zugrunde legte. Wahrscheinlich sind das ca. 54.000 Spielminuten - ohne Nachspielzeit und ohne Gewähr auf Richtigkeit der Angabe. Übertragen auf einen "echten" Fußballer, bedeutete dies: Legt man eine reine Heimspielserie zugrunde (denn "nur" hier war Bierbaum offiziell im Dienst - auch wenn er noch zuletzt in Ratingen Co-Stadionsprecher war), müsste ein Spieler analog dazu knapp 35 Jahre gegen den Ball treten. Gesetzt den Fall, ein solches Unikum würde mit 18 seine Laufbahn begonnen haben, könnte er sich also mit stolzen 53 Jahren aufs Altersteil begeben, um Dieter Bierbaums Bilanz nachzueifern - vorausgesetzt keine Verletzung oder die Ungnade eines Trainers ereilte ihn. Das wäre einsamer Ligenrekord - eben so, wie es "The voice" vorgemacht hat. Damit nicht genug, denn weiterhin konnte Bierbaum in 600 Spielen Mannschaftsaufstellungen mit ca. 10.000 Spieler- und knapp 2.000 Schiedsrichternamen verlesen. Unschätzbar ist die Anzahl der Werbeblöcke in den Halbzeitpausen. Unzählbar die der Sonderankündigungen. Mindestens 600mal jedoch kam der Hinweis auf das nächste Heimspiel der Fortuna. "Das ist doch schon mal was, oder?!" fragt er, Bierbaum, fast rhetorisch und mit unterschwelligem Stolz. Ja, das ist was, bestätigt man ihm gern, denn so wie er hat nachweislich kein anderer Stadionsprecher in dieser Republik eine derart lange und bewegende Laufbahn hinter sich. Spontan bietet sich an, allmählich den europäischen Vergleich anzustellen - Statistiker mögen sich angespornt fühlen: Wir leben schließlich in der EU.


War er in den Sechzigern, nach abgeschlossener kaufmännischer Ausbildung, in Bonn auf höchsten parlamentarischen Ebenen beheimatet - immerhin hatte Erich Mende, damaliger Vizekanzler und FDP-Vorsitzender, Bierbaum zum persönlichen Referenten erwählt - kam auf ihn Anfang der Siebziger die nächste herausragende Aufgabe zu: Bierbaum wurde Leiter des Weltmeisterschaftsbüros in Düsseldorf und zeichnete somit für die gesamte Organisation verantwortlich. Zu Gast am Rhein in der Vorrunde waren 1974 die Nationalmannschaften von Schweden, Uruguay, Bulgarien, sowie in der 2. Finalrunde die Ausrichter und Europameisterschaftssieger von 1972, das deutsche Team unter Bundestrainer Helmut Schön. Die in traditionellem schwarz-weiß gekleidete Equipe konnte später die begehrte FIFA Worldcup Trophy, Nachfolger des legendären Coupe Jules Rimet, im Finale gegen die Niederlande in München gewinnen, nachdem man sich im Rheinstadion mit Siegen gegen Jugoslawien und Schweden durchgesetzt hatte. Immer dabei: Dieter Bierbaum. Das war vor mittlerweile drei Jahrzehnten. Und besagtes Rheinstadion sollte seine langjährige Heimat werden, auch wenn er damals noch in anderer Funktion tätig war und zwischenzeitlich einen Seitensprung an die Spree zu Hertha BSC Berlin als Manager wagte.


Die Geschichte des Rheinstadions - er kennt sie


Noch heute ist er sichtlich ergriffen, wenn es um das Rheinstadion geht, denn er kennt die Geschichte "der Schüssel" zu gut und weiß - aus Erzählungen - vom unglaublichen Chaos 1926 beim Eröffnungsspiel gegen Holland zu berichten, (das die Deutschen mit 4:2 für sich entschieden,) als 70.000 Fans im nur 60.000 Zuschauer fassenden Stadion Platz suchten. Auch dies weiß er, obwohl dies etliche Jahre vor seiner Geburt und fern seiner damaligen Heimat stattfand. Oder er erzählt vom Umbau in den Jahren 1968 bis 1972, als aus dem vergleichsweise profanen Stockumer Sportstadion eine WM-Arena wurde, die als eine der schönsten in Europa galt und was seinerzeit gigantische 50 Millionen Mark kostete. Und er kann ebenso vom Match anlässlich der Neueinweihung eben dieses Rheinstadions erzählen, bei dem die Nationalelf gegen die Schweiz (5:1 für Deutschland) aufspielte und ein gewisser Gerd Müller viermal den Ball im Kasten der Eidgenossen versenkte. Lokalmatador Reiner Geye, der wesentlich dazu beigetragen hatte, dass die Fortuna unter Trainerlegende Heinz Lucas im Jahr 1971 in die Bundesliga aufgestiegen war, gab bei dieser Begegnung seinen Einstand in der Nationalauswahl.


Reiner Geye ist inzwischen auf tragische Weise verstorben und das Stadion, einst eines der Wahrzeichen der Stadt, wurde im September 2002 gesprengt. Bierbaum hat es mit beerdigt - auf seine, auf würdevolle Art. Das war am 3.3.2002, gegen Rot Weiß Essen, beim letzten Spiel der Fortuna im "alten Stadion". Als zwei Jahre später, auf den Tag genau, um die gleiche Uhrzeit, ein Testspiel gegen die Amateure des 1. FC Köln angepfiffen wird, gibt er sich gefasst angesichts der neuen Multifunktionsarena, die östlich der Nebenkampfbahn mächtig erwächst: "Man sagt oftmals: Das Alte ist des Neues Feind. Aber dort wird es eine tolle, neue Arena geben. Ich hoffe nur, dass die Fortuna dort ebenso Einzug halten wird, wie es seinerzeit auf selbstverständliche Weise einen Einzug der Fortuna ins Rheinstadion gegeben hat." Einen schöneren Bogen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann kaum einer ziehen wie er. Dabei schwingt immer auch etwas Pathos mit, aber eben auch fundierte Kenntnis kraft seiner Erlebnisse. So viele Jahre für Fortuna, deren Ehrenmitglied er inzwischen ist, so viele Jahre in dieser Wahlheimat lassen sich nicht leugnen. Eine Facette?!


Im Zoostadion ist die Fortuna 2003/2004 in der Partie gegen Borussia Wuppertal zwar überlegen, doch verwertet sie viele Chancen nicht zum entscheidenden Torerfolg. Bierbaum kennt dies - die jüngste Vergangenheit hat ihn dies gelehrt und er bemüht sich, dies mit mitunter stoischer Gelassenheit zu ertragen. Zumindest nach außen. Doch in dieser Saison scheint so einiges anders zu sein und es ist vergleichsweise ruhig im Stadion, trotz erneut tausender Anhänger, die aus der Landeshauptstadt mitgereist sind. Die Fans der Fortuna haben dazu gelernt und passen sich inzwischen den "Spielregeln" in der Stadt der Schwebebahn an. Sie wissen, dass eine eher neutrale Kleidung und der Verzicht auf Vereinsdevotionalien, wie Schal und Trikot, die Wahrscheinlichkeit erhöht, den bereits teuer erstandenen Tribünenplatz zu sichern. Zwar reicht es spielerisch am Ende nur zu einem - aus Fortuna-Sicht - eher mageren 1:1 unentschieden an der Wupper, doch Bierbaum "stand parat und wäre eingesprungen, wenn es Stress mit den eignen Fans gegeben hätte." Seine beruhigende Wirkung via Stadionmikrofon - auch auswärts - ist bekannt und geschätzt und erst zuletzt beim Pokalhalbfinale gegen Uerdingen wäre er beinahe wieder gefragt gewesen, als ein paar Verwirrte eklatante Verstöße gegen die Stadionordnung zeitigten. "Das ist ganz merkwürdig, denn ich weiß, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl der Fans aus Begeisterung zum Fußball ins Stadion kommt - und es sind halt eben auch ein paar Wenige, aber um so Gefährlichere dabei, die im Laufe eines Spiels vollkommen ausrasten." Er verzieht sein Gesicht und macht unmissverständlich klar, dass ihn derlei Ausfälle stören: "Es gibt ein paar Dummköpfe, die nur ihre eigenen Interessen sehen und sich um das Wohl des Vereins einen Dreck scheren." Ein ansonsten beherrschter Dieter Bierbaum wirkt ziemlich aufgebracht und seine Gesichtszüge verraten deutlich sein Unverständnis und seine tiefe Verärgerung.


Er sagte das legendäre 7:1 gegen die Bayern an


Eine weitere Facette bei dem Mann, der das unglaubliche 7:1 der Fortuna gegen Bayern ansagen durfte, das bis heute als "Meilenstein der Niederlagen des FCB" gilt. Erst kürzlich hatte der Norddeutsche Rundfunk eine CD dazu heraus gegeben. Wie überhaupt die Spiele gegen die Münchner Bayern immer wieder ihren besonderen Reiz hatten, wie das unvergessene 6:5 im Sommer 1975 (nach einem 2:4 Rückstand) oder aber das 3:1 im Pokal gut zwanzig Jahre später, wo ein Akteur namens Ben Manga das Spiel sein Lebens bestritt.


Nach gut neunzig Minuten pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab - die anschließende Pressekonferenz beim Auswärtsspiel ist für einen "alten Hasen" wie Bierbaum reine Routine. Denn er kann an diesem Tag in die Rolle des Zuhörers schlüpfen. Zuhause, ob seinerzeit im Rheinstadion oder heute im Paul-Janes-Stadion, führt er ohnehin die geheime Regie bei den anschließenden öffentlichen Zusammenkünften mit den Übungsleitern. Duzte schon, nicht selten unter den unverhohlen verblüfften Blicken der Zuhörer, Trainer-Größen wie Otto Rehhagel, Udo Lattek oder aber auch Matthias Sammer. Blieb aber dabei immer ein fairer Sportsmann. "Dem gegnerischen Trainer die Chance zu geben, die Dinge aus seiner Sicht darzustellen, ohne im dabei ins Wort zu fallen, auch wenn man das Spiel doch ganz anders gesehen hat," dies hält Bierbaum "für eine Frage des guten Stils." Eine weitere Facette, eine weitere löbliche und heutzutage selten gesehene. Nur einmal hat er sich, wenn auch unbeabsichtigt, aber nachweislich, einen Versprecher erlaubt, als er dem damaligen Trainer Wojtowicz das Wort erteilte mit dem Satz: "Nun bitte ich Rudi um seinen letzten Kommentar." Facetten können wirklich unterschiedlich ausfallen und für Heiterkeit sorgen. (tk)

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