Fahrstuhl ins Ungewisse
Warum Arminia Bielefeld Fußball-Kulturgut ist
"Aber, ganz ehrlich, selbst wenn nun eine gute Fee vorbeikäme und uns anbieten würde, noch einmal neu wählen zu können. Freie Auswahl, alle europäischen Topklubs dabei, Real Madrid, FC Barcelona, Hannover 96 - wir würden dankend ablehnen", umschrieb 11FREUNDE-Chefredakteur Philipp Köster einmal seine Liebe zur wetterwendischen Diva aus Ostwestfalen. "Denn wir haben mit Arminia einfach schon zu viel erlebt." Wahrlich: Auf der Alm gaben sich die Charakterköpfe die Klinke mitunter wie einen Staffelstab in die Hand, wechselten Triumph und Dilettantismus manchmal im Jahresrhythmus. Am Ende der laufenden Saison verliert die Zweite Liga mit der Arminia einen ihrer charismatischsten Vertreter - und eine Schatztruhe, prall gefüllt mit herrlichen Anekdoten.
Der Mensch im Allgemeinen neigt dazu, seine Vergangenheit zu verklären. Schon Karl Valentin wusste, dass "heute die gute alte Zeit von morgen" sein kann, und sicherlich spielt die selektive Wahrnehmung so manchem Nostalgiker einen Streich - aber könnte man es Arminia Bielefeld in diesen Tagen verdenken, wehmütig in eine Zeit zurückzublicken, als neidische Zungen "Arminia Vielegeld" gifteten?
Aus dem Jahre 1994 stammt diese Verballhornung, und sie wurde geboren, als Geschäftsführer Rüdiger Lamm mit beiden Händen nach der Tresortür langte und dem damaligen Drittligisten DSC Arminia vier hochkarätige Neuzugänge ermöglichte. Ernst Middendorp, der insgesamt drei Amtszeiten auf der Bielefelder Bank vorweisen kann, schweißte die um Stars wie Thomas von Heesen und Fritz Walter ergänzte Truppe zu einer schnittigen Karosserie zusammen, die direkt bis in die Bundesliga emporschoss. Dort griff man abermals zur Schatulle, um Nationalstürmer Stefan Kuntz an den Rand des Teutoburger Waldes zu locken - es ließ sich gutes Geld auf der Alm machen, wie auch der niederländische Libero Sonny Silooy freimütig ausplauderte: "Ich verdiene hier fantastisch. Zur Not setze ich mich noch zwei Jahre auf die Tribüne!"
Fünfzehn Jahre und mehrere Pendelfahrten zwischen Liga Eins und Zwei später kann einen schwer verschuldeten DSC nicht einmal mehr ein sportliches Wunder vor dem Gang in die Drittklassigkeit bewahren. Mit der Inanspruchnahme von Mitteln aus einem DFL-Rettungsfonds und dem resultierenden Punktabzug ist Arminia Bielefeld seit Wochenbeginn amtlich verbrieft aus der Zweiten Liga abgestiegen. "Arminia Vielegeld" ist in Verklärtheit zerflossen, denn die wirtschaftliche Not, in die der Klub nicht zuletzt aufgrund einer aufwändigen Stadionerweiterung geraten war, hatte bereits vor Saisonbeginn akute Züge angenommen. Die finanziellen Spannungen entluden sich folgerichtig in einem nicht zu unterschätzenden Aderlass an sportlicher Substanz. Statt Giovanni Federico oder Chris Katongo verweist nun Collin Quaner auf die meisten Einsätze im Angriff - im Vorjahr schnürte er noch für die Reserve der Düsseldorfer Fortuna in der Regionalliga West die Schuhe.
Noch ist ungewiss, in welcher Spielklasse der DSC in der kommenden Saison antreten darf - davon unabhängig scheinen gewaltige Einschnitte im Etat unabwendbar. Mut macht die Expertise, die man auf der "Alm" mit finanziellen Schieflagen hat, die den Klub auch in früheren Tagen nie entscheidend umwarfen. Den Zwangsabstieg nach der Beteiligung am Bundesligaskandal 1971 steckte der DSC ebenso weg wie die mageren Oberliga-Jahre gegen Ende der Achtziger, die zur "Tour über die Dörfer" Westfalens mutierte und erst mit den kräftigen Investitionen von 1994 ein Ende fand. Wohin die Reise diesmal geht, muss die Zukunft zeigen.
Eine baldige Rückkehr der schwarz-weiß-blauen Arminen dürfte auf den Wunschzetteln aller Fußballliebhaber einen vorderen Platz einnehmen. Was hat dieser Verein nicht für berückende und bühnenreife Räuberpistolen mitverfasst, was hat er nicht an unverwechselbaren Figuren und knallbunten Anekdötchen zu bieten? Wer an Arminia Bielefeld denkt, vor dem ploppen die Bilder auf wie Seifenblasen.
Vor dem inneren Auge schärft sich plötzlich Ansgar Brinkmann, der expressionistisch tricksende Tausendsassa, der im Spiel mitunter mit einer Leichtigkeit durch die Welt zu gleiten schien, die ihm abseits des Rasens manchmal schwerfiel. Brinkmann, der es nach eigener Aussage auf 50 Länderspiele hätte bringen können, ließ am einen Tag geradezu frivol dribbelnd ein halbes Dutzend Gegenspieler mit Orientierungsschwierigkeiten zurück, nur um bald darauf anderweitig in den Schlagzeilen aufzutauchen. Man denkt vielleicht auch an Ernst Middendorps weißgeballte Fäuste im Moment, als Delron Buckley beim 3:1 über die Bayern dem großen Oliver Kahn einen Tunnel direkt in die Glückseligkeit verpasst, und im nächsten Augenblick erinnert man sich, dass dem Jahrhunderttrainer im Mannschaftsbus nach einem Gastspiel beim HSV anlässlich eines Fernsehinterviews von Stefan Kuntz der Kragen explodierte. Middendorp stieg aus und führte die Heimreise alleine im Taxi fort. Und dann waren da noch Karim Bagheri und Ali Daei, die im schwarz-weiß-blauen Trikot nicht nur als erste Iraner in die Bundesligageschichte eingingen, sondern auch als diejenigen Athleten, die den Oberlippenbart als Pflichtaccessoire des Fußballprofis würdevoll zu Grabe trugen - den Umgang mit dem runden Leder beherrschten sie ohnehin aus dem Effeff.
Arminia Bielefeld ist der einzige Bundesligist, der zehn Tore in einer Halbzeit schlucken musste - und hält auf der anderen Seite heute noch den Rekord für den höchsten Zweitligasieg. Kein anderer Verein ließ im Rausch des Bundesligaaufstiegs so häufig die Sektkorken fliegen wie Arminia Bielefeld (sieben Mal) - ebenso häufig weinte man allerdings im Schatten der Sparrenburg bittere Abstiegstränen, auch das bleibt bislang unüberboten. Arminia Bielefeld bot einmal aus reiner Personalnot den Stammtorwart im Sturm auf, Arminia Bielefeld inthronisierte einmal vor dem letzten Spieltag einen neuen Übungsleiter, und Arminia Bielefeld stieg einmal nach einem 4:0 über den FC Bayern noch ab. Aber Arminia Bielefeld brachte auch Nationalspieler wie Arne Friedrich und Patrick Owomoyela hervor, Arminia Bielefeld berief als erster deutscher Profiklub eine Frau auf den Präsidentenstuhl, und aus einem Fan-Magazin von Arminia Bielefeld sollte Jahre später die Zeitschrift 11FREUNDE hervorgehen.
Es bleibt zu hoffen, dass einer der lebhaftesten und traditionsreichsten Fußballvereine, die Deutschland zu bieten hat, auch in Zukunft zur Faszination des Sports beitragen wird.
Lesenswert: 11FREUNDE-Chefredakteur Philipp Köster erzählt aus dem Leben eines Arminia-Verehrers.