Die Trampolinspringer von der Castroper Straße
Bisher blieb der VfL Bochum nie länger als ein Jahr in der Zweiten Liga - auch diesmal?
"Wir schlagen wie wild mit den Flügeln, dass uns der Absturz verschont", sang Stadtbarde Herbert Grönemeyer im Mai 1993 auf seiner neuen CD, die zwei Wochen bevor der VfL Bochum zum ersten Mal aus der Bundesliga absteigen sollte, erschien. Man stand auf an der Ruhr, fiel dann erneut hin, kletterte empor, glitt umso tiefer wieder hinab - und das beinahe im Jahresrhythmus. "Wir können uns drehen, können uns winden, es herrscht das Chaos" heißt es weiter im mit "Chaos" betitelten Song, und vielleicht hatte mancher treuer VfL-Anhänger diese Zeilen im November 2010 sogar im Hinterkopf, als der Tiefpunkt erreicht war: Einen Monat nach dem Rücktritt des langjährigen Präsidenten Werner Altegoer war der Verein durch ein 1:4 gegen den FC Ingolstadt auf Platz 13 der Zweiten Liga abgerutscht. Mittlerweile liegen die Blau-Weißen wieder auf Kurs.
Der FC Bayern mit weitem Abstand vornweg, dahinter der SV Werder und der HSV, gefolgt vom VfB Stuttgart und Borussia Dortmund - was aussieht wie das Abschlusstableau einer beliebigen Meisterschaftssaison, ist in Wahrheit die Ewige Tabelle der Fußball-Bundesliga seit 1963. Auf den weiteren Rängen: lauter illustre Namen, ausnahmslos aktuelle Erstligisten, und dann schon bald, auf Platz 12, der erste derzeitige Zweitligist: Der VfL Bochum. Seinem Status als gefühltes Mitglied der Beletage haben selbst fast zwanzig Jahre im "Fahrstuhl" zwischen den beiden ersten Profiklassen nichts anhaben können. Das Selbstverständnis in der einstigen Kohle- und Stahlstadt wünscht sich den Verein ohnehin in Liga Eins.
Der Mythos um den VfL , einstmals sogar als "unabsteigbar" zu gelten, ist zwar verloschen, der Aufenthalt im Unterhaus dauerte jedoch nie länger als ein Jahr. Stets erwies man sich als stark genug für den direkten Wiederaufstieg. Die Zweite Liga war das verlässliche Trampolin, von dem der VfL in schöner Regelmäßigkeit wieder aufwärtsfederte. Klaus Toppmöller und Peter Neururer führten den vielfach (zu Unrecht) als "graue Maus" gescholtenen Club, der in seinen ersten zwanzig Bundesligasaisons nie besser als auf Platz 9 abgeschnitten hatte, zwischenzeitlich gar bis in den UEFA-Cup, nur um dann umso heftiger bald darauf hart aufzuschlagen. So erinnert die Geschichte des VfL ein wenig an das Arbeitsleben des "Steigers", jenes Bergbauarbeiters, der tagein, tagaus in die Tiefen hinab- und wieder hinauffährt und dem die jahrzehntelang in den Zechen tätigen Kumpels des Ruhrgebietes eine eigene Hymne widmeten - immer noch wird das Lied bei jedem Heimspiel mit Inbrunst intoniert. Eine Parallele im Übrigen zu der Wismuth-Stadt Aue, die derzeit ebenfalls zum Kreis der Aufstiegsfavoriten gerechnet werden darf.
Friedhelm Funkel soll indes als hauptverantwortlicher Liftführer dafür sorgen, dass der "Steiger" von der Castroper Straße den Fahrstuhl möglichst noch in diesem Jahr wieder im obersten Stockwerk verlässt. Der gebürtige Neusser trat nach dem sechsten Bundesliga-Abstieg im Sommer 2010 das Erbe der einstigen Mittelfeld-"Zaubermaus" Dariusz Wosz an, und er war durchaus eine logische Wahl. Schließlich hievte Funkel während seiner langen Trainerlaufbahn bereits fünf Vereine hoch in die Beletage. Zu Beginn der laufenden Saison sah es jedoch zunächst lange danach aus, als sei der für den VfL benötigte Hebel zu groß; die Heimpleite gegen Ingolstadt bildete die Talsohle eines langen, beschwerlichen Marsches.
Seit diesem Nackenschlag allerdings walzte der Klub mit der Wucht einer Dampflokomotive unter Volllast durch die Liga. Nach acht Siegen in Folge streute zwar ausgerechnet Schlusslicht Arminia beim jüngsten 2:2 eine Handvoll Sand auf die Schienen. Der kleine Ausrutscher sollte jedoch nicht über die - vor allem individuell im Übermaß vorhandene - Klasse des Revierclubs hinwegtäuschen. Die Gehaltliste weist eine Vielzahl bekannter Namen aus. Marcel Maltritz, Anthar Yahia, auch Kapitän Christoph Dabrowski (der allerdings gegen Fortuna Düsseldorf gelb-rot-gesperrt fehlt): Coach Funkel kann auf gestandene Recken mit Gardemaß zurückgreifen, aber auch und vor allem hinsichtlich des spielerischen Potentials blicken viele Zweitligakollegen neidisch in den Pott: Da wären ein Giovanni Federico oder ein Mimoun Azaouagh, die dank herausragender technischer Fertigkeiten aus dem Nichts Tore einleiten können - aber auch selber gern in die Spitze stoßen. Ein Ex-Nationalspieler Paul Freier, der über die Jahre vielleicht an Unbekümmertheit verloren, aber mit Sicherheit an Erfahrung gewonnen hat. Oder mit Dribbelkönig und Auswahlkicker Österreichs Ümit Korkmaz einer, der vor zwei Jahren bei der EM für Furore sorgte. Und nicht zuletzt Chong Tae-se, jener Nordkoreaner, der in Südafrika bei der Hymne wie ein Kindergartenkind weinte, aber vor dem gegnerischen Tor kalt wie ein Auftragskiller zu vollstrecken vermag. Reichlich Auswahl also für Aufstiegsspezialist Funkel, der nach den anfänglichen Strauchlern schon längst sein Selbstbewusstsein wiedergefunden hat, wenn er Medienvertretern in die Notizblöcke diktiert: "Wir steigen auf. Da bin ich mir ganz sicher."
Immer besser in Fahrt kommt allerdings der kommende Gegner, die Fortuna. Wie der VfL erlebte der Flingeraner Traditionsverein einen kapitalen Fehlstart in die Spielzeit, um dann allerdings Stück für Stück die Konkurrenz wieder einzusacken. Funkel warnt vor einem "richtig heißen Kampf", dürfte allerdings womöglich ein wenig Beruhigung beim Blick in die Datenbanken finden. Für die Rot-Weißen, bei der Claus Costa sich in Bochum auf ein Stelldichein mit seiner eigenen Jugendfußball-Zeit freuen darf, hingen die Trauben in der Vergangenheit häufig recht hoch an der Castroper Straße. 22 Mal trat man seit 1971 dort an, lediglich vier Siege gelangen, während der VfL Bochum 12 Mal die Fahne des Ruhrgebiets hochhielt. Gelingt Heimerfolg Nummer 13, bleiben die Blau-Weißen weiter in der engeren Verlosung der Aufstiegsplätze, deren Erreichen ja schon beinahe traditionellen Charakter hätte. In diesem Falle würden die den hier verwurzelten Grönemeyer zitierenden Gesänge vermutlich noch ein Weilchen nach Schlusspfiff andauern: "Wer wohnt schon in Düsseldorf?" Und das will aus dem Team von Chefcoach Norbert Meier sicherlich niemand riskieren.
Foto: Nadine Koch